Projektbeschreibung


Druckgraphik: Conrad Meyer 1664

Das Projekt möchte mit dem 17. und frühen 18. Jahrhundert eine vergessene Phase der Deutschschweizer Literatur neu perspektivieren, nämlich die Epoche zwischen dem Ausscheiden der Eidgenossenschaft aus dem Reichsverbund 1648 und dem bedeutenden Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich ab 1730. Die Hypothese lautet, dass sich in diesem Zeitraum sowohl ein ostmitteldeutscher Standardisierungsanspruch als auch schweizerisch-städtische Lizenzbehauptungen formierten, deren Spannung das sprachkulturelle Selbstverständnis der Deutschschweiz im Grunde bis heute prägt.

Mit der Reformpoetik des Martin Opitz und dem Purismus der barocken Sprachgesellschaften gerieten mündlich-dialektale Traditionen in vielen Regionen des Reichs unter Druck. In der gelehrten Öffentlichkeit der Deutschschweiz warf der neue Impuls die Frage auf, ob sich die Eidgenossenschaft auch nach dem Westfälischen Frieden einem gesamtdeutschen Sprach-, Literatur- und Kulturraum zugehörig fühlen und sich dessen Normierungstendenzen beugen solle, oder ob sie ihre sprachkulturellen Varietäten und politischen Eigenheiten zu behaupten vermöge. Die Antworten auf diese Frage werden vor allem in der dichterischen Praxis gegeben und fallen so vielfältig wie widersprüchlich aus. Die Forschungsgruppe soll die reformpoetische Antinomie von Standardisierung und Diversifikation erstmals für die besondere Situation der Deutschschweiz dokumentieren und analysieren. Dafür fragt sie nach zeitgenössischen Akteuren und ihren Aneignungspraktiken sowie nach Phänomenen formaler Hybridisierung, Diglossie und Intermedialität.

Ein wichtiger Akteur in dieser Frage ist der Zürcher Zuchtherr und Dichter Johann Wilhelm Simler. Seine Teutschen Gedichte (1648) waren ein durchschlagender Erfolg. Sie wurden viermal aufgelegt und teilweise ins Rätoromanische übersetzt. Mit seiner Edition möchte das Projektteam erstmals Simlers künstlerische Netzwerke erarbeiten und rekonstruieren, wie Simler sich gegenüber dem reformpoetischen Projekt der Opitzianer positioniert. Mit seinem vielschichtigen Werk, das Dichtung, Musik, Druckgrafik und weitere Medien involviert, liegt ein einflussreiches Dokument aus der Frühphase der Schweizer Literatur vor. Die Gratwanderung zwischen Standardisierung und Lizenzbehauptungen, die man damals anstrebte, prägt das sprachkulturelle Selbstverständnis der Deutschschweiz bis heute.

Eine digitale Edition seines Hauptwerks bietet die Möglichkeit, Simlers Netzwerke, seine literarisch-musikalischen Grenzgänge und die orthographisch-typographischen Idiosynkrasien leicht fassbar darzustellen sowie anhand der verschiedenen Ausgaben auch die Entwicklung seiner an Opitz orientierten Reformdichtung nachzuverfolgen. Die Edition soll nicht nur der Fachwelt als Arbeitsinstrument dienen können, sondern auch für eine interessierte Öffentlichkeit aufbereitet sein. Eine begleitende Dissertation wird erstmals die Opitz-Rezeption in der Deutschschweiz auf breiterer Basis von Simler bis zu Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger untersuchen. Besonderes Gewicht legt sie auf die produktiven Brüche mit reformpoetischen Vorgaben, auf Mischformen und Experimente sowie auf die produktive Konvergenz von Standard und Dialekt.